Reiseflirt

Sonntagmorgen. Der Badezimmerspiegel gähnt mir griesgrämig entgegen und der Hochnebel verleiht dem Dorf eine gespenstische Leblosigkeit. Ich fahre heute zu einem Seminar. Müde. Die Gedanken kreisen um den gestrigen Tag, den streikenden Drucker, der zerlegt im Büro herumliegt, als ob er gesprengt worden wäre. Der macht das mit Absicht, der will mich nur ärgern! Er ist selber schuld an diesem desolaten Zustand!

So blöd. Gefühle einem Gerät entgegenzubringen und ihn zu personifizieren. Aber er ist schuld, dass ich mein Exposé nicht fertigstellen konnte, dass ich die versprochenen Unterlagen nicht dabei habe. Er ist schuld an diesem Desaster und am grauen Morgen, dem griesgrämigen Gesicht im Spiegel! Ein kleiner Gedanke schleicht sich in mein Hirn:  Kann ein Drucker Schuldgefühle haben? Ich habe ihn noch nie gemocht. Wo bleibt da meine Sachlichkeit?

Ich setz mich ins Auto – bin zu spät dran! Natürlich! Wie immer. Warum schaff ich es nie pünktlich wegzufahren? Mein Atem geht schnell, der Puls rast! Ein Blick auf das digitale Armband bestätigt es. Das schicke Teil gefällt mir.

Der Radiomoderator macht Witze. Ein Knopfdruck: Anderer Sender neue Chance – keine Chance!  D säuselt ein Stimmchen in den Äther. Wirkt wie ein dünner Filterkaffee. Diese Dudelei holt mich auch nicht aus dem trüben Morgen heraus.

Also muss eine CD her – meine geliebte Konservenmusik hat immer die nötige Power, um mich in Schwung zu bringen. Das Grau des Morgens verfärbt sich zu einem hellen Silbergrau. Kraftvolle Klänge in einer Lautstärke, die man mir nicht zutrauen würde. Ich mag die super Soundanlage dieses Autos. Wow – das belebt. Ich mag dieses elegante Fahrzeug, es gleitet dem silbrig und goldig schimmernden Morgenhimmel entgegen und frisst leise surrend Kilometer um Kilometer. Die wenigen Fahrzeuge, die ich überhole, sind wie graue Mäuse auf meinem Weg. Ich könnte sie verspeisen, fühl mich schon so stark. Hab aber keine Lust auf Kleinigkeiten und überhol sie singend.

Da aus dem Nichts ist ein sportlicher SUV Platinum Version aufgetaucht. Er überholt, gleichmässig und ohne Hektik fährt er an mir vorbei. OK. Auch schönes Gefährt. Eins, das mir eben immer wieder auffällt. Wir fahren gleichmässig hintereinander und ich fühle mich total ebenbürtig mit meinem schicken Wagen und der tollen Soundanlage.

Er wird minim langsamer, ich setze zum Überholen an und beobachte ihn. Wird er Gas geben? Kann er es verschmerzen, wenn ich ihn hinter mir lasse? Langsam arbeite ich mich nach vorne. Nicht weniger und nicht mehr Gas – Tempomat 127. Er hätte leichtes Spiel mir zu zeigen, dass er das nicht mag. Nein, er lässt es zu. Ich bin vorne und sehe ihn im Rückspiegel. Langsam nähert er sich und überholt wieder…

Der Nebel nur noch in Fetzen – verdrängt durch die Sonne – wirkt mystisch und lässt den Blick auf einzelne Bäume und den Flusslauf auf der linken Seite zu. Ich brause auf dem grauen Betonband vorwärts.

Mein Herz hüpft. Und die Seele schwingt immer mehr. Ich bin erfüllt vom Sein und dem Sog der Geschwindigkeit.

Das Spiel beginnt von vorne. Mein Tempo 127. Wenn er, der Geländewagen will, darf er langsamer werden, wenn nicht ist es auch ok. Fast in seinem Schlepptau. Er verlangsamt und mein Fahrzeug arbeitet sich vorwärts. Ich klopfe den Takt zur Musik, trällere die Hauptmelodie mit und mein Wagen rauscht – wie in Zeitlupe – an ihm vorbei. Ein kurzer Blick. Auch nicht mehr ganz jung. Wohin alleine unterwegs am Sonntagmorgen? Was mag er von mir denken? Ich könnte ihm meine Gedanken verraten, aber das kleine Geheimnis auf einem gemeinsamen Weg ist zart und belebend.

In ein paar Minuten werde ich beim Autobahnkreuz sein. Mein Wagen frisst schnurrend Meter für Meter. Noch einmal das Katz-und-Maus-Spiel. Die schwarze elegante Limousine ist vorne.  Kann man mit einem Auto flirten, ohne das Gesicht des Lenkers zu kennen? Hat das Fahrzeug eine Seele? Komische Gedanken. Philosophische? Menschliche?

Ich muss rechts weg. Wir fahren genau gleich schnell. Ich blinke rechtzeitig. Beobachte ihn. Ohne wirklich zu bremsen leuchten seine Bremslichter zwei Momente lang auf. Nie vorher haben wir die Bremse gebraucht. Hat die Geländelimousine vor mir auch eine Seele? Wie der Drucker? Mein Schritte- und Herzrhythmuszähler am Handgelenk? Tschüss. Entschwunden.

19. März 2017 / TRI

von Silvia