Max – oder was?
Der Tisch bebt! Ein Erdbeben? Rund um mich herum rüttelt alles. Meine Familie schaut mich erschrocken an. «Mum, was läuft mit dir falsch?» Ja, das frage ich mich auch. Allgemeine Ratlosigkeit. Ich tappe wie eine Betrunkene, der Boden, weit von mir entfernt.
Die Männer organisieren. Schnell wird mir befohlen: «Du gehst jetzt zum Arzt.“ Das Heft wird mir aus der Hand genommen, ausgerechnet mir, der Organisatorin unserer kleinen Firma. Einfach untergebuttert! Die tröstenden Worte verfehlen ihre Wirke: „Hab keine Sorge, wir übernehmen deine wichtigen Arbeiten.» – Soso….
Dann klärte der Hausarzt ab, liess mich auf einem imaginären Seil tanzen und mit dem Zeigefinger die Nase suchen. Nichts Verdächtiges – mir ging es gut und er konnte nichts herausfinden. Ein Spuck! Doch der Mediziner lässt mich wissen: «Mein Bauchgefühl sagt, dass ich sie jetzt ins Spital überweise für weitere Untersuchungen.» Von wegen Bauchgefühl. Das müsste doch bei mir irgendwo zu spüren sein. Aber bei mir fand ich nichts Derartiges mehr.
Dann an einem sonnigen und milden April-Tag die Hammer-Diagnose: Hirntumor! Das riss mir zum zweiten Mal den Boden unter den Füssen weg. Die Oberärztin erlaubte sich, mir ein Auto-Fahrverbot auszusprechen. Ich fahre ja gar nicht besonders gerne Auto, aber ich bin gerne Fahrlehrerin. Und dazu braucht es halt in Gottes Namen einen gültigen Führerschein. Ich war nicht nur verwirrt, sondern ebenso empört!
Hirntumor. Aber was für einer? Aggressiv, gutartig, oder was? Hirntumor, da sitzt also irgendwo in meiner Denkzentrale etwas, was da nichts zu suchen hat. Wie geht es jetzt weiter? Ich wusste nur, dass ich jetzt Zeit hätte, das Büro in Ordnung zu bringen. Das hatte ich mir schon lange vorgenommen und deshalb heimlich gewünscht ein Bein zu brechen, damit ich gezwungen wäre keine Fahrstunden zu erteilen. «Besen, Besen seids gewesen … Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht los!» Genau so erging es mir. Alles lief aus dem Ruder.
Ein Tumor ist zwar etwas unpersönliches, trotzdem aber etwas höchstpersönlich Einmaliges. Ich gab ihm kurzerhand einen Namen: «Max!» «Max» ist also bei mir eingezogen ohne zu fragen, ja er hat sich eingeschlichen ohne meine Erlaubnis. Deshalb schrieb ich ihm einen Brief: «Hiermit kündige ich dir auf einen unbekannten Termin! Ich verspreche dir, du ziehst wieder aus. Sei versichert, ich helfe dir dabei!»
Zuversichtlich ging ich ans Werk und analysierte meinen Zustand. Psyche – stark, mental ebenfalls in Ordnung, Körper eher schwach. Jede Versicherung analysiert schliesslich die Risiken und versucht zu optimieren. Also ging’s ans Trainieren, Spazieren, Gehen, Joggen, Velofahren. Ich hatte ja viel Zeit, Auto fahren durfte ich nicht mehr.
«Seien Sie versichert, es geht schon weiter», sagten die Ärzte. «Ja, aber wie denn?» «Es gibt sicher einen guten Arzt, der Sie operieren kann.» «Ja, aber wer denn?» «Wir sind zuversichtlich, es gibt eine Chance.» « Ja, aber welche denn?» «Herrgott nochmal, weshalb versichert ihr mir, dass ihr zuversichtlich seid, obwohl keiner die Lösung oder den Weg zeigen kann? Das verunsicherte mich noch mehr als «Max» in meinem Kopf!» So hätte ich am liebsten geschrien, aber ich wollte die Zuversichtlichen nicht auch noch verunsichern.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit mir noch blieb, um mich körperlich aufzurüsten bis zum Auszug meines Untermieters im Oberstübchen. Also trainierte ich den ganzen Tag irgend etwas. Spazieren mit unserem Hund, Gartenerde einkaufen mit dem Velo, Säckchen für Säckchen. Zuvor liess ich aber am Fahrrad noch Rückspiegel montieren, schliesslich drückt die Fahrlehrerin auch in diesem Zustand durch. Joggen, schwimmen und wieder Velofahren. Zwischendurch machte ich auch Mehrfach-Übungen: ich schrie und fluchte und fuhr gleichzeitig Velo. Eigentlich ist es erstaunlich, dass niemand das «gelbe Wägelchen» für mich holen liess. Trotz schriftlicher Kündigung an «Max» und vollem Programm gab es einfach auch bei mir Momente, da war ich mehr als verunsichert, vor allem war ich wütend auf diese beschissene Situation.
Das Telefon klingelt: eine ruhige, aber bestimmte Männerstimme: «Bernays» «ich habe ihre Unterlagen studiert und möchte sie nächste Woche operieren – sonst sind sie nicht mehr lange Fahrlehrerin.» «Ok?» Er erklärt. Die Stimme klingt vertrauensvoll. Und ich frage. Ich lege den Hörer auf. Und blicke zuversichtlich in die Welt! Ich weiss nun, wie es weitergehen wird, denn nun ist der Auszugstermin für Max definitiv gebucht. Am Tag des Spitaleintritts jogge ich zuerst eine Stunde! «Max» kann ausziehen!
Diese Geschichte ist ein paar Jahre her. Mir geht es gut. «Max» ist gegangen. Vieles hat sich in meinem Leben verändert. Ich arbeite weniger, gehe aktiv meinen Interessen und Neigungen nach. Zuversichtlich geniesse ich arbeitend das Leben. Und ich bin sicher, mich nie wirklich pensionieren zu lassen. «Max» hat mir eine Lektion erteilt und ich habe begriffen, dass ich das Leben jetzt leben muss.
Ich stille meinen Wissensdurst und meine Neugier und lasse sie in meinen Alltag einfliessen. Mein Leben ist wie ein bunter Blumenstrauss, die Arbeit mit den Fahrschülerinnen ist eine spannende Sache, aber auch die Kräuterkurse, Hypnose, Bienen, das Reisen mit Hans-Peter und natürlich unsere Enkel sind wunderbare Blüten in diesem grossen Gefäss. Ich wünsche mir keine Beinbrüche mehr, ich lebe meine Träume. Jetzt. Dank Max!
Silvia Trinkler-Diem 5. April 2016