Nur ein Stück Stoff – Toleranz
Wir haben uns an einer Weiterbildung kennengelernt. Sie ist Deutsche und hat Jura studiert. Ich mag sie. Wir können uns über alles unterhalten und über vieles lachen. Sie erzählt mir von ihrer Familie, der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und zu ihrer Schwester. Der Vater hat seit Jahren eine Freundin. Viele Geschichten wirr durcheinander, irgendwie haben alle Einfluss aufeinander. Wir bei mir auch.
Ihr Arbeitgeber hat ihr gekündigt – Umstrukturierung. Sie findet nicht sofort einen adäquaten Job. Der RAV-Berater meint lakonisch: «Ziehen sie doch ihr Kopftuch aus. Mit ihren Qualifikationen haben sie dann kein Problem mehr.» Sie wehrt sich dagegen. Sie will sich vom RAV nicht in ein Null-Acht-Fünfzehn-Gerüst drücken lassen. Sie lehnt Jobs ab, die sie unterfordern oder bei denen sie ihre Haltung ändern müsste. Sie streitet mit ihrem Mann wegen des Jobs, wegen des Geldes, wegen der Gleichberechtigung. Er hat Mühe, dass sie mehr verdient. Er ist Hilfsarbeiter, spricht unsere Sprache nicht und sein Temperament kommt ihm immer wieder in die Quere.
Ihr Gerechtigkeitssinn und seine fremdländische Art knallen mit der Polizei zusammen. Sie hat es satt und macht trotzdem weiter. Er akzeptiert, dass sie eine eigene Kanzlei eröffnet und dass sie ihn immer wieder aus dem Polizeiposten herausholt – sie ist seine Anwältin. Seine, und die der Menschen ohne Rechte und Möglichkeiten. Sie hat wenig Geld und arbeitet oft unentgeltlich. Sie hilft, wenn sie kann.
Wir treffen uns auf einen Kaffee im Restaurant und sprechen über die Hürden in unserem Leben. Sie erzählt, dass sie oft von Schweizern angegriffen wird. Verbal. Ich kann mir das nicht vorstellen. Wir haben immer Gesprächsstoff. Ihre Schwester ist nach Ibiza gezogen, die Kanzlei läuft gut. Zwei wichtige Fälle hat sie gewonnen. Sie erzählt, dass sie bei der Eingangpforte bei Gericht immer gefragt wird: «Übersetzerin?» Und dass sie dann lächelnd antwortet: «Anwältin.» Gestern wurde sie in einer internationalen Tageszeitung zitiert . Das mag sie nicht. Sie will nicht im Rampenlicht stehen…. Die Zeit verfliegt wie im Nu. Eine interessante Frau.
Wir sitzen ganz hinten in der Beiz. Ein paar Stammgäste sitzen am runden Tisch. Etwas heruntergekommen, randständig. Einer der schmuddeligen Typen kommt in unsere Richtung, geht an uns vorbei. Bis zur Aussenwand des Restaurants – sonst ist da nichts. Wendet. Und spaziert zurück. Auf der Höhe unseres Tisches zischt er: «Saupack! Ausschaffen! Abfahren!.» Meine Nackenhaare stehen zu Berge. Wirklich! Ich schäme mich, dass ich ihr damals nicht geglaubt habe. Diese Beschimpfung wegen eines Stücks Stoff? Unglaublich was die Angst vor dem Fremden für Auswirkungen hat. Unglaublich auch, wie die Medien diese Angst zu schüren wissen.